Interview von Corinne Cahen im Luxemburger Wort

"Begleiten statt befehlen"

Interview: Luxemburger Wort (Marc Hoscheid)

Luxemburger Wort: Corinne Cahen, Sie haben erneut das Familienministerium übernommen. Ist Ihnen das Ministerium so sehr ans Herz gewachsen, oder haben Sie schlicht kein anderes bekommen? 

Corinne Cahen: Das liegt daran, dass mir dieses Ministerium sehr am Herzen liegt. 

Als Verhandlungsführerin bei den Koalitionsgesprächen hätte ich mir auch eine ganze Reihe anderer Ministerien aussuchen können. 

Luxemburger Wort: Woran liegt das? 

Corinne Cahen: Als ich vor sechs Jahren in die Regierung eingetreten bin, hat Premierminister Xavier Bettel (DP) mir auch noch andere Ministerien vorgeschlagen, aber für mich kam nur das Familienministerium infrage. Dies hat mehrere Gründe. Erst einmal wegen der älteren Menschen. Wie jeder weiß, habe ich vor meiner politi- schén Karriere Schuhe verkauft. 

Ich bin in einem Familienbetrieb aufgewachsen und war oft in Altenheimen, um dort Schuhe zu verkaufen. Die Älteren haben viel für uns getan und verdienen es deswegen, dass man sich gut um sie kümmert. Ein anderer Grund ist die Tatsache, dass ich ein großes Problem mit Obdachlosigkeit habe. Ich komme aus dem Bahnhofsviertel, wo man öfter damit konfrontiert wird. Ich finde, in diesem Bereich müssen wir noch besser werden, und deswegen freut es mich, dass in diesem Jahr die neue Winteraktion startet. Im Schuhladen hatte ich auch öfters mit körperlich oder geistig Beeinträchtigten zu tun und finde es wichtig, diesen Menschen den Zugang zum öffentlichen Leben zu ermöglichen. Weitere Anliegen sind mir die „work-life-balance" junger Eltern und die Integration ausländischer Mitmenschen. 

Letzteres klappt zwar momentan ganz gut, man darf allerdings nicht den Fehler machen zu glauben, dass das alles von alleine funktioniert. 

Luxemburger Wort: Wie definieren Sie als zuständige Ministerin den Begriff "Familie"? Vor 40 Jahren wäre die Antwort klar gewesen: Vater, Mutter und Kinder. Doch wie verhält es sich im Jahr 2019? 

Corinne Cahen: Eine Familie, das sind Menschen, die sich einander zugehörig fiihlen, die zueinander halten und miteinander leben, egal unter welcher Form. Familie kann ein sehr weiter Begriff sein. Ich habe da keine prädefinierte Meinung, und es ist, wie Sie sagen, vor einigen Jahrzehnten war das vielleicht klarer mit dem typischen Bild von Vater, Mutter und Kindern. Für mich sind es Menschen, die sich füreinander verantwortlich fühlen. 

Luxemburger Wort: Im Wahlkampf haben sich vor allem CSV und DP gegenseitig vorgeworfen, den Familien nicht die Wahl zu lassen. Hatten nicht eigentlich beide Seiten recht, weil jede der zwei Parteien eine Idealvorstellung von Familie anstrebt, die CSV eine eher konservative und die DP eine liberale Variante, jedoch nicht offen dazu stehen wollten? 

Corinne Cahen: Nein das ist überhaupt nicht so. 

Die DP hat sich 2013 und auch schon lange davor die Gesellschaft angeschaut und beobachtet, wie die Menschen heute leben. Es ist nicht an uns, ihnen vorzuschreiben, wie sie zu leben haben. 

Wir wollten wissen, was sie brauchen, und dabei geht es nicht darum, eine Wahl treffen zu müssen, sondern sie brauchen Unabhängigkeit, vor allem auf finanziellem Plan. Frauen mit einer guten Ausbildung, die nicht 40 Stunden die Woche. arbeiten wollen, sollen diese Möglichkeit haben, dies betrifft auch junge Väter. So ist nun einmal die Realität, es ist nicht unbedingt so, dass wir das so wollen, aber es ist nicht die Aufgabe des Politikers, die Welt so zu gestalten, wie er sie haben will. Es ist seine Aufgabe sie, so wie sie ist, zu organisieren. 

Luxemburger Wort: Es gibt quasi keine Gemeinde, in der nicht gerade mindestens eine Maison relais gebaut wird. Diese sollen es berufstätigen Paaren ermöglichen, die Elternrolle und ihre Arbeit unter einen Hut zu bekommen. Ist es aber nicht ein Problem, dass aus dem Luxus mittlerweile eine Notwendigkeit geworden ist? 

Corinne Cahen: Ein gesellschaftliches Problem ist es, wenn eine junge berufstätige Mutter nach ihrem Schwangerschafts- und Mutterschaftsurlaub keinen Platz für ihr Kind in einer Kindertagesstätte findet. Es kann aber auch nicht sein, und das ist auch nicht so, dass Kinder irgendwo anders als zu Hause erzogen werden. Die Welt ist aber nicht schwarz oder weiß. Ich habe es schon immer verurteilt, wenn man Frauen in Kategorien eingeteilt hat. Nach dem Motto: Das ist eine gute Mutter, weil sie etwas Bestimmtes tut, und eine Frau, die das nicht tut, ist automatisch eine schlechte Mutter. Das stört mich wirklich sehr. Es gibt ja auch unterschiedliche Phasen im Leben. 

Man kann die Welt nicht so einfach in Kategorien einteilen. Als Politik müssen wir die Rahmenbedingungen schaffen, die es jedem Einzelnen erlauben, sich sein Leben nach seinen eigenen Vorlieben zu organisieren. Dies natürlich ausschließlich auf Basis der geltenden Gesetze. 

Luxemburger Wort: Nicht nur bei den Kindern, sondern auch bei älteren Menschen gibt es den Trend, sie in Einrichtungen wie diese hier "Op der Rhum" zu stecken, anstatt sie zu Hause zu versorgen. Häuser, in denen drei oder gar vier Generationen zusammenleben, werden immer seltener. Ist das in Ihren Augen der richtige Weg? 

Corinne Cahen: Es ist wichtig, dass die Menschen die freie Wahl haben. Viele Menschen gehen von sich aus ins Altenheim, weil sie ihrer Familie nicht zur Last fallen wollen oder sich nach Gesellschaft sehnen. Es gibt für ältere Mitbürger nichts Schlimmeres als Einsamkeit. Auch wenn sie mehrmals in der Woche von Familienmitgliedern besucht werden, dann ist das oft nur eine Stunde nach der Arbeit, und die restlichen 23 sind sie trotzdem alleine. Diese Einsamkeit sollte man wirklich nicht unterschätzen, deswegen ist es wichtig, dass der Staat solche Einrichtungen zur Verfügung stellt und weiterhin garantiert, dass jeder Bürger sich ein Zimmer leisten kann. 

Luxemburger Wort: Der Congé parental scheint gut bei den Menschen anzukommen. Wie viele Personen haben diesen bereits in Anspruch genommen und wie ist die Verteilung zwischen den Geschlechtern? 

Corinne Cahen: Seit er am 1. Dezember 2016 eingeführt wurde, haben 31.697 Personen vom Elternurlaub profitiert. Von diesen Personen waren rund 54 Prozent weiblich und 46 Prozent männlich. Bei beiden Geschlechtern war der Vollzeit-urlaub über sechs Monate klar die beliebteste Variante. Während sich bei den Frauen rund 48 Prozent für diesen entschieden, waren es bei den Männern gar 76 Prozent. 

Luxemburger Wort: Soll dieses Angebot künftig ausgebaut werden? 

Corinne Cahen: Ja, wir wollen den Congé parental plus einführen. Sehr viele Frauen arbeiten halbtags, dadurch haben sie später auch weniger Rentenansprüche. Wir müssen sicherstellen, dass Eltern weniger arbeiten gehen können, ohne dabei später bei der Rente Einbußen zu haben. Hier geht es um die "work-life-balance" junger Eltern, das heißt, dass sie sowohl ökonomisch abgesichert sind als auch Zeit für ihre Kinder, Freunde und Hobbys haben. Das wollen die Menschen heutzutage, und die DP versucht, alles dafür zu tun, dass sie das auch bekommen. 

Luxemburger Wort: Stößt diese "work-life-balance" nicht aber irgendwann an ihre Grenzen? Muss man den Menschen nicht auch ehrlich sagen, dass sie nun einmal nicht alles haben können und deswegen Entscheidungen treffen müssen, zu denen sie dann auch stehen? 

Corinne Cahen: Also, dass man nicht alles haben kann, damit bin ich ganz einverstanden. Allerdings habe ich während meiner Zeit im Privatsektor viele Frauen gesehen, welche mit ihrem Partner zusammen die Entscheidung getroffen haben, nicht länger arbeiten zu gehen, und wo die Ehe dann später in die Brüche gegangen ist. Diese Frauen saßen dann bei mir im Büro und waren bereit, jede Arbeit zu verrichten, weil der Mann plötzlich weg war und sie die Kinder ernähren mussten. Zum Glück gilt das nicht für jede Ehe, aber es kommt vor. Deswegen bin ich der Meinung, dass in einer Beziehung jeder der beiden Partner von dem anderen ökonomisch unabhängig sein sollte. 

Luxemburger Wort: Die CSV hat im Rahmen einer Familienoffensive mehrere Vorschläge gemacht, unter anderem die Einführung eines Großelternurlaubs. Was halten Sie davon? 

Corinne Cahen: Also, was die CSV machen will, fragen Sie am besten die CSV. Sie merken, dass sie beim Congé parental den Zug verpasst haben. 

Als sie ihn 1999 eingeführt haben, war das eine arbeitspolitische und keine familienpolitische Maßnahme. Erst wir haben eine familienpolitische Maßnahme daraus gemacht. Diese ganzen Vorschläge der CSV sind Augenwischerei, und man hat danach ja auch nicht mehr viel davon gehört. Sie scheinen also von ihren eigenen Ideen selbst nicht sonderlich überzeugt zu sein. Das wurde ja auch von den Menschen im Land eher belächelt. 

Luxemburger Wort: Aber die konkrete Maßnahme Großelternurlaub angesprochen, ist das in Ihren Augen kein sinnvoller Vorschlag? Premierminister Bettel hat in seinem Sommerinterview doch Input von der Opposition verlangt. 

Corinne Cahen: Ja, aber dann wünsche ich mir doch etwas mehr Input. Es ist kein Bedarf für diesen Vorschlag da. Viele Großeltern arbeiten ohnehin nicht mehr und hätten daher keinen Anspruch darauf. Wir leben auch in einer Gesellschaft, in der die Großeltern vieler Kinder gar nicht in Luxemburg leben. 

Ich hatte nicht den Eindruck, dass die Reaktion der Gesellschaft war „Das brauchen wir". Wir sollten uns auf die echten Bedürfnisse der Menschen konzentrieren und nicht auf politisch motivierte Vorschläge. 

Luxemburger Wort: Stichwort Integration: Wie viele Asylsuchende befinden sich derzeit in staatlichen Unterkünften und reicht das Angebot aus? 

Corinne Cahen: Das ist schwer zu sagen, wir haben etwas über 3.000 Betten zur Verfügung. Es stimmt, dass wir viele Asylsuchende haben und bei den Aufnahmekapazitäten an unsere Grenzen stoßen. Dies liegt daran, dass viele der Menschen, die in den Flüchtlingsunterkünften leben, eigentlich gar kein Recht mehr darauf haben, sich aber wegen der hohen Immobilienpreise nichts auf dem Wohnungsmarkt leisten können. Ich wehre mich allerdings dagegen, das Thema Integration nur auf Flüchtlinge zu reduzieren. Jedes Jahr kommen 20.000 Menschen neu nach Luxemburg, und diese gilt es auch zu integrieren, denn wir wollen auf keinen Fall, dass Parallelgesellschaften entstehen. 

Luxemburger Wort: Ein wichtiges Mittel für Integration ist Sprache. Wie hoch schätzen Sie den Stellenwert des Luxemburgischen in diesem Kontext? 

Corinne Cahen: Als Sprache ist Luxemburgisch wichtig, aber ich finde es kulturell wichtiger. Die Leute, die zu uns kommen, sollen wissen, dass wir eine Sprache haben. Aber Sprache ist mehr als ein Mittel der Kommunikation, sie spiegelt auch unsere Denkweise und Kultur wider. 

Und wir Luxemburger haben eine Kultur, von der unsere Sprache ein Teil ist. Deswegen ist es auch extrem wichtig, dass Neuankömmlinge zumindest die Basis der Sprache lernen. Wir haben darauf bestanden, dass alle Flüchtlinge einen Grundkurs erhalten, in dem sie 100 luxemburgische Wörter lernen. Wir merken das ja in unserem eigenen Alltag, dass es schön ist, wenn jemand in ein Geschäft kommt und zumindest "Moien" sagt. Dies zeigt, dass er sich interessiert und anstrengt. 

Luxemburger Wort: Es fördert ja auch die Akzeptanz gegenüber Flüchtlingen in der Bevölkerung, wenn diese Luxemburgisch beherrschen, oder? 

Corinne Cahen: Ja, obwohl ich bisher nie gespürt habe, dass sie keine Akzeptanz hätten. Ich bin noch immer sehr über die nachhaltige Willkommenskultur der Luxemburger gerührt. Auch wenn das Thema nicht mehr so stark in der Aktualität vertreten ist, engagieren sich nach wie vor viele Freiwillige für Flüchtlinge. Dies liegt wohl auch daran, dass wir es gewohnt sind, Menschen bei uns aufzunehmen. 

Immerhin sind rund 50 Prozent der Einwohner Ausländer, in Luxemburg-Stadt sogar 70 Prozent. 

Luxemburger Wort: Sie sind auch Ministerin für die Großregion. Ist dieser Begriff nicht eher ein Label, als dass er tatsächlich eine Identität zum Ausdruck bringt? Ich glaube, wenn man in der hauptstädtischen Fußgängerzone die Menschen auffordern würde, alle Teile der Großregion aufzuzählen, dann hätten die meisten ziemliche Probleme, oder? 

Corinne Cahen: Ich denke, die Luxemburger können mit der Großregion etwas anfangen. Die Großregion muss nicht jeden Tag thematisiert, sondern sie muss im Alltag gelebt werden. Ein Beispiel ist das Instrument juridique, für das sich Camille Gira lange eingesetzt hat. 

Dieses sieht vor, dass bei grenzüberschreitenden Projekten, beispielsweise dem Bau einer Kläranlage, nur eine Legislation gilt. 

Luxemburger Wort: Es wäre kein Sommerinterview, wenn diese Frage fehlen würde: Was machen Sie im Urlaub, um sich zu entspannen? 

Corinne Cahen: Ich gehe normalerweise nicht weit weg in die Ferien. Im August bleibe ich hier in Luxemburg. Da allerdings dieses Jahr das erste seit einiger Zeit ist, in dem keine Wahlen mehr anstehen, werde ich mit meinen Kindern im September nach Italien fahren. 

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